Die Ironie des Empowerments

Brian Robertson, HolacracyOne

Vor einiger Zeit hatte ich das Privileg, einem Theaterstück von einem meiner Lieblingsautoren für Organisationen, Barry Oshry, beizuwohnen. Es war ein brillantes Stück über Organisation und Empowerment, und eine der Zeilen hat mich wirklich beeindruckt und ist mir im Gedächtnis geblieben. Der Satz wurde von einer Figur vorgetragen, die für einen empowernden Leader arbeitete, unmittelbar nachdem dieser Leader wegen seiner unkonventionellen Art entlassen worden war. Als die Figur den Verlust eines so großartigen, empowernden Chefs beklagte, stellte er seinen Kollegen eine flehende Frage: „Wer wird uns jetzt empowern?“

Ich fand die absichtliche Ironie in der Aussage absolut köstlich. Denn natürlich ist es die grundsätzlich entmachtete Haltung eines Opfers, jemand anderen zu brauchen, der einen empowert. Und es verwies auf die Ironie der gut gemeinten Arbeit dieses Leaders: Indem er innerhalb einer entmachtenden Unternehmenskultur heldenhaft „andere empowerte“, füllte er immer noch die Rolle des heldenhaften Leaders aus, der andere paradoxerweise in die Rolle eines entmachteten Opfers versetzte – obwohl das nicht seine Absicht war.

Mit meinem heutigen Verständnis in Bezug auf den Wert von Empowerment finde ich die Ironie in dieser Geschichte durchaus erinnerungswürdig. Eine Umgebung, in der Führungskräfte andere empowern müssen, ist im Grunde genommen eine entmächtigende Umgebung – eine Umgebung, die heroische Top-Down-Führung nutzt, um über die heroische Top-Down-Führung hinauszugehen, und sich somit auf fundamentale Weise auf genau dasjenige stützt, was sie doch überwinden will.


Ein empowerndes System

Was soll der edle, wohlmeinende Leader also tun? Sicherlich ist es besser, andere zu empowern als es nicht zu tun, oder? Ja, ich denke schon; Ich würde es vorziehen, heldenhaft andere zu empowern, anstatt einfach beim Status quo zu bleiben, und es ist erfreulich zu sehen, wie sich heute so viele Führungskräfte für diesen Weg entscheiden. Und wenn sie bereit sind, einen weiteren Schritt darüber hinaus zu gehen, gibt es meiner Meinung nach eine Möglichkeit, das Spiel völlig zu ändern.

Eigentlich ist es ziemlich einfach, zumindest vom Konzept her (in der Praxis ist das eine andere Sache). Um über Leader hinauszugehen, die andere empowern, brauchen wir ein System, in dem jeder ermächtigt ist – genauso wie konstitutionelle Demokratien keine wohlwollenden Diktatoren benötigen, die „andere ermächtigen“, weil das System selbst einen Raum für tiefere Freiheit bietet. Ebenso, wenn die Kernstruktur der Befugnisse und der Prozesse einer Organisation fundamental einen Raum halten, in dem jeder Macht haben und nutzen kann, und der niemandem – nicht einmal einem Leader – erlaubt, andere mit seiner Macht zu dominieren, dann müssen wir uns nicht mehr auf Führungskräfte stützen, die andere empowern. Stattdessen haben wir etwas viel Mächtigeres: einen Raum, in dem wir alle unsere eigene Ermächtigung im Dienste eines größeren Sinn und Zwecks finden können – in dem wir alle Führungspersönlichkeiten sein können – und ein System, das diesen Raum hält, unabhängig von der Haltung eines Einzelnen, was auch immer seine Stellung sein mag.

Konkret erfordert dies eine neue Machtstruktur für die Organisation und neue Prozesse, die Befugnisse halten und verteilen, anstatt dass Führungskräfte dies durch autokratische Dekrete tun. Um zu vermeiden, dass dieses neue System selbst nur ein weiteres autokratisches Dekret ist, muss es in die Rechtssatzung und die Betriebsstruktur der Organisation integriert werden, zumindest sobald seine Wirksamkeit klar ist. Und, quasi als ironische Schlusspointe, braucht es dafür Leader, die ein System empowern, welches andere empowert, indem sie ihre Autorität auf heroische Weise dauerhaft in die Arme dieses Systems übergeben.

Veröffentlicht am 03.07.2023. 

Dieser Artikel von Brian Robertson wurde im Original am 28. Oktober 2010 veröffentlicht unter http://holacracy.org/blog/the-irony-of-empowerment 

Übersetzung: Dennis Wittrock, Xpreneurs


Unbeabsichtigte Machtkonzentration trotz flacher Hierarchie
Eleonora Weistroffer