Die „sicher genug, um es zu probieren“- Falle

Dennis Wittrock

Im Umfeld von Organisationen, die mit Holacracy oder mit Soziokratie arbeiten, hört man bei neuen Vorschlägen oft die Frage, „Ist es sicher genug, um es zu probieren?“

Das ist im Prinzip eine sehr nützliche Frage, um Bedenken zu zerstreuen und schneller ins Handeln kommen zu können. Denn wenn ein Vorgehen sicher genug erscheint, dann können wir es ja erst mal mit dem Vorschlag versuchen und später noch anpassen, falls und sobald sich Anzeichen von Problemen zeigen, nicht wahr?

Absolut. Das ist sehr pragmatisch und wirkt befreiend für alle Zweifelnden, Zögernden und Zaudernden. Kein Wunder also, dass man diese Frage mehr und mehr hört. Sie wird jedoch zum Problem, wenn sie unterschiedslos und inflationär auf alle möglichen Bedenken angewendet wird, wie man es zunehmend in solchen Organisationen beobachten kann.

Ineffizienz und Anhäufung organisationaler Schulden

In der Praxis sind nämlich die meisten Vorschläge „sicher genug zum Ausprobieren", d.h. sie haben voraussichtlich keine irreversiblen Folgen. Wenn man die Frage also nun als Filter auf jedes Bedenken und jeden potenziellen Einwand anwendet, dann kann das dazu führen, dass eine bestimmte Klasse von Bedenken systematisch über Bord geworfen wird.

Es geht insbesondere um Bedenken, die mit der Minimierung der Effizienz zusammenhängen, bzw. dass der Vorschlag andere Prozesse langsamer oder umständlicher machen würde.

Ein Beispiel wäre z.B., wenn eine neue Richtlinie verlangt, dass Dateien zur Sicherheit an drei verschiedenen Speicherorten gespeichert werden müssen. Wäre es „sicher genug, um es mit diesem Vorschlag zu probieren?“ Keine Frage. Aber ein solcher Vorschlag würde auch absehbar dazu führen, dass Reibung und Ineffizienzen in die Arbeits-Abläufe eingeführt würden. Und das ist ein berechtigtes Bedenken, das man nicht abbügeln sollte.

Wenn du diese Art von Bedenken ständig mit "Ja, aber es ist immer noch sicher genug zum Ausprobieren, oder?" abtust, magst du zwar technisch kurzfristig recht haben, aber langfristig führt es zur Anhäufung von „Organisations-Schulden“, weil wir Ineffizienzen in Kauf nehmen, indem wir diese als berechtigte Einwände ignorieren und ausschließen. Kumulativ kosten solche Ineffizienzen die Organisation bares Geld.

Die Reihenfolge ist entscheidend

Daher wird von der Reihenfolge her beim Testen von Einwänden in Holacracy Governance Meetings die Frage "Könnte bedeutender Schaden eintreten, bevor wir nachsteuern könnten, … oder ist er sicher genug um es zu versuchen, wissend, dass wir es jederzeit korrigieren können?" nur dann gestellt, sofern dieses Bedenken in der vorigen Testfrage als voraussagend (Vermutung) identifiziert wurde. Sonst nicht. Alles andere ist schlechte Prozessmoderation.

Wir haben versucht, diesen Sachverhalt auf unserer Governance Moderationskarte visuell darzustellen. Die Frage, ob es „sicher genug“ ist, ist eine nachgelagerte Frage, bzw. „Sub-Frage“ (des vierten Kriteriums für Einwände in der Holacracy Verfassung). Nur wenn die Antwort auf die vorgelagerte Frage auf dem rechten Pol landet, soll die Sub-Frage gestellt werden.

 Kriterium 4 der Testung von Bedenken

Anders gesagt: Wenn Leute nicht über einen möglichen Schaden spekulieren, der vermutlich durch einen Vorschlag verursacht werden könnte, sondern sie schon mit Sicherheit wissen, dass der Schaden eintreten wird (z.B. die Ineffizienz durch eine Richtlinie wie oben), dann walze sie nicht ohne Not mit dieser zweiten Frage platt! Wie gesagt: diese Frage ist eine ziemliche Totschlag-Frage, die die meisten Bedenken eliminiert.

Stattdessen integriere bitte das Bedenken, das gerade von einem vertrauenswürdigen Sensor deiner Organisation identifiziert wurde. Frage nicht weiter, ob der Vorschlag sicher genug ist. Das ist irrelevant, da die bedenkentragende Person bereits aus Erfahrung weiß, dass der Schaden (Ineffizienz) eintreten wird.

Stelle diese Frage nur, wenn das Bedenken vage und spekulativ ist und der Schaden aus Sicht des Sensors nur "vielleicht" oder „möglicherweise“ eintritt. In diesem Fall ist es dann hilfreich, Fälle herauszufiltern, in denen das Risiko zu hoch ist, um mit dem Vorschlag zu experimentieren, weil die Auswirkungen möglicherweise zu schwierig rückgängig zu machen sind.

Noch mal, wenn du als Prozessmoderator:in diesen subtilen Punkt übersiehst, dann wirfst du sehr valide Bedenken achtlos über Bord und frustrierst jeden, der an Effizienz interessiert ist. Nur weil ein Vorschlag „sicher genug zum Ausprobieren“ ist, heißt das nicht, dass er uns nicht langsamer machen würde. Und wenn du das bereits weißt, warum ignorierst du die Person, die diese Spannung verspürt?

Die Reihenfolge und Schachtelung der Testfragen auf den Holacracy Moderationskarten ist kein Zufall. Stellt man die Frage, ob man es erst mal probieren kann, unreflektiert außerhalb dieses Kontexts, kann sie eine schädliche Wirkung haben. Es ist dann nicht „sicher genug“ zu fragen, ob es „sicher genug zum Ausprobieren“ ist. Also nutze die Frage weise und mit Umsicht.

veröffentlicht am 04.05.2023
Die Geschichte von Holacracy
Brian Robertson