Tactical Meeting – das zentrale Koordinationstool der holakratischen Praxis

Wie der Pulsschlag eines Kreises Daten sichtbar macht und Spannungen in konkrete nächste Schritte verwandelt

Ein Tactical Meeting ist weit mehr als ein weiteres Team-Meeting – es ist das Herzstück der operativen Koordination in Holacracy. Wenn dein Team schon mit Holacracy arbeitet oder du den Einstieg professionalisieren möchtest, lohnt sich ein tiefer Blick: Wie funktionieren Tactical Meetings genau, und welche Haltung braucht es als Prozess-Moderator:in (Facilitator), damit sie ihr volles Potenzial entfalten? In diesem Beitrag erklären wir praxisnah und verständlich, was ein Tactical Meeting ausmacht, wie es abläuft und wie du häufige Stolperfallen vermeidest. So entwickelst du sowohl ein klares Verständnis des Prozesses als auch des Mindsets dahinter.

Was ist ein Tactical Meeting? Koordination statt Problemlösung

Ein Tactical Meeting (auch “Holacracy Tactical” genannt) ist in Holacracy der regelmäßige operative Check-in einer Einheit (Circle). Anders als klassische Meetings, in denen oft diskutiert oder nach Konsens gesucht wird, dient das Tactical primär der Koordination: Es bietet einen fokussierten Rahmen, um aktuelle Spannungen – d.h. Hindernisse, offene Fragen oder Bedürfnisse im laufenden Arbeiten – rasch zu verarbeiten. Wichtig: Im Tactical Meeting wird nicht gemeinsam an inhaltlichen Problemlösungen gearbeitet oder operativ „gewerkelt“. Stattdessen werden Hindernisse identifiziert und aus dem Weg geräumt, damit alle Beteiligten anschließend in ihren Rollen zügig weiterarbeiten können.

Das Tactical Meeting ist somit ein Fallback-Netz für alles, was sich nicht bereits informell klären ließ. Idealerweise lösen Rolleninhaber Spannungen direkt im Alltag eigenständig oder durch kurze Abstimmungen. Alles Weitere fängt das Tactical Meeting auf – effizient, strukturiert und ohne Abschweifungen. Hier kann jedes Kreis-Mitglied Unterstützung erhalten und Koordination anfordern, ohne dass ein separates Ad-hoc-Meeting organisiert werden muss. Und wichtig: Alles, was im Tactical geklärt werden kann, ließe sich auch außerhalb lösen – das Meeting ist nie der einzige Weg. Seine Stärke liegt vor allem darin, einen festen Zeitpunkt mit klarem Prozess zu bieten, damit nichts Wichtiges liegenbleibt.

Die 5 Phasen eines Tactical Meetings

Ein Tactical Meeting folgt einem klaren Prozess mit fünf Phasen. Diese Struktur bringt Sicherheit, Fokus und Geschwindigkeit in die Besprechung – sie wirkt nicht als Korsett, sondern im Gegenteil als Katalysator für effektive Selbstorganisation. Die Phasen im Überblick:

  1. Check-in-Runde: Zu Beginn lädt der oder die Prozess-Moderator:in alle Teilnehmenden ein, der Reihe nach präsent zu werden und anzukommen. Jede Person darf kurz mitteilen, was sie gerade beschäftigt oder ablenkt, um mental im Hier und Jetzt zu landen. Es gibt keine Diskussion oder Kommentare dazu – jede:r erhält kurz einen geschützten Raum und spricht nur für sich. Der Check-in schafft Präsenz und einen gemeinsamen Ausgangspunkt für alle.
  2. Checklisten-Durchsicht: Anschließend liest der oder die Prozess-Moderator:in vordefinierte Checklistenpunkte (wiederkehrende To-dos oder Pflichten von Rollen) vor. Die zuständigen Rollen-Leads antworten jeweils mit „Erledigt“ oder „Nicht erledigt“. Es wird lediglich sichtbar gemacht, ob die regelmäßigen Aufgaben erledigt wurden – keine Diskussion.
  3. Kennzahlen-Durchsicht: Als Nächstes berichtet jede Rolle mit definierten Kennzahlen kurz den aktuellen Stand und ggf. die Entwicklung der Kennzahl. Beispiel: Eine Vertriebsrolle meldet „Umsatz diese Woche: 50.000 €, 5% weniger als letzte Woche“. Verständnisfragen zu den Zahlen sind erlaubt, Diskussionen oder Bewertungen jedoch nicht. Die Idee: objektive Fakten transparent teilen, ohne direkt Debatten abzuleiten.
  4. Projekt-Fortschritte: Der oder die Prozess-Moderator:in liest alle laufenden Projekte des Circles (bzw. pro Rolle) vor und fragt: „Gibt es ein Update?“ Der oder dir jeweilige Projektverantwortliche nennt entweder „Kein Update“ (nichts Neues seit dem letzten Meeting) oder beschreibt in einem Satz die wichtigste Änderung bzw. den Fortschritt. Nur Verständnisfragen sind zulässig; alles Weitere gehört gegebenenfalls als Spannung auf die Agenda.
  5. Agenda erstellen & bearbeiten: Nun sammelt der Facilitator von allen Anwesenden die Themen bzw. Spannungen, die sie bearbeiten möchten. Jede:r nennt dazu kurz ein Stichwort für sein Thema (z.B. „Budget Q4“ oder „Launch-Event“), ohne weitere Erläuterung. Diese Agenda-Liste wird anschließend Punkt für Punkt verarbeitet – der Facilitator hilft der Person, die den jeweiligen Punkt eingebracht hat, rasch zu einer Klärung zu kommen.

Die Schritte 2 bis 4 (Checklisten, Kennzahlen, Projekt-Fortschritte) bilden die informative Präambel des Meetings. Sie dienen ausschließlich dazu, den aktuellen Stand sichtbar zu machen – nicht zur Diskussion dieser Daten. Wenn dabei neue Spannungen auffallen („Oh, hier stimmt etwas nicht“), werden diese einfach als Agenda-Punkt notiert, anstatt direkt vom Plenum besprochen zu werden. So bleibt das Meeting schlank und effizient.

Agenda-Punkte effizient verarbeiten: Ablauf und Tipps

Nachdem die Agenda steht, beginnt der Kern des Tactical Meetings: das Verarbeiten der Spannungen. Hier geht es um die „Triage“ der gesammelten Punkte – also schnelle Erste Hilfe für jede Spannung, fokussiert auf das Bedürfnis des einbringenden Rollen-Leads. Der Facilitator führt durch diesen Prozess und achtet darauf, dass man nicht in endlosen Diskussionen versackt. Stattdessen folgt das Tactical einer Pfadlogik (A–D), die sich in vier Leitfragen an den oder die Spannungsträger:in ausdrückt. Diese Fragen helfen dabei, zügig herauszufinden, was konkret gebraucht wird, um die Spannung aufzulösen:

  • A) „Möchtest du, dass etwas getan wird?“
    Zunächst klärt der Facilitator, ob hinter der Spannung der Wunsch nach einer konkreten Aktion oder einem neuen Projekt steckt. Geht es also darum, dass irgendetwas erledigt oder initiiert werden soll? Wenn ja, wird präzisiert: „Von welcher Rolle möchtest du das anfragen?“ Damit wird sichergestellt, dass die Anfrage gezielt an die Person in ihrer Rolle gestellt wird, die dafür zuständig erscheint. Sobald klar ist, wer etwas tun soll, formuliert der:die Prozess-Moderator:in Facilitator die konkrete Anfrage an diese Zielperson. Wichtig dabei: Es geht nicht um Gefälligkeiten, sondern um Rollenpflichten. Deshalb fragt derdie Facilitator z.B.: „Würde es dem Purpose oder den Accountabilities deiner Rolle dienen, diese Aktion umzusetzen?“ Damit wird klar: Fällt die geforderte Aktion in den Zuständigkeitsbereich einer Rolle, ist es Aufgabe des Rollen-Leads, sie anzunehmen – keine Frage persönlicher Vorliebe. Dieses transparente Framing erhöht die Verbindlichkeit. Sobald die verantwortliche Person die Aktion oder das Projekt annimmt (und der:die Kreis-Sekretär:in es notiert), fragt der:die Prozessmoderator:in zur Bestätigung: „Hast du damit, was du brauchst?“ – ist die Antwort ja, gilt die der Agendapunkt als abgeschlossen.
  • B) „Brauchst du Informationen?“
    Falls keine konkrete Aktion erforderlich ist, geht es möglicherweise um fehlende Informationen oder Einschätzungen. Der:die Prozess-Moderator:in fragt hier gezielt, ob der oder die Agendapunkt-Inhaber:in bestimmte Daten, Fakten oder Feedback von anderen braucht. Wenn ja, werden die entsprechenden Personen direkt um Auskunft gebeten. Achtung: Hinter vermeintlichen Info-Fragen steckt oft der Wunsch nach Bestätigung. Der Facilitator achtet auf solche Konsenssuche – etwa wenn jemand in die Runde fragt „Was meint ihr?“, obwohl er laut Rolle selbst entscheiden dürfte. Dann erinnert er daran, dass jede Rolle die volle Befugniss hat, Entscheidungen eigenständig zu treffen. Du musst im Tactical also nicht um Erlaubnis bitten, sondern kannst Infos einholen und dann eigenverantwortlich handeln.
  • C) „Willst du Informationen teilen?“
    Manchmal möchte jemand einfach nur etwas mitteilen, damit alle Bescheid wissen – z.B. „Ich bin nächste Woche remote erreichbar.“ Der Facilitator gibt Raum, diese Info kurz zu teilen. Direkt danach fragt er wieder: „Hast du jetzt, was du brauchst?“, um sicherzustellen, dass die Spannung durch das Teilen wirklich weg ist. Wenn die Mitteilung in Wahrheit mit einer Bitte verknüpft war, würde das jetzt deutlich – dann bräuchte es vielleicht doch noch eine Aktion oder Entscheidung. Ansonsten ist der Punkt erledigt, ohne in eine offene Diskussion abzudriften.
  • D) „Gibt es etwas, das du regelmäßig erwarten können willst?“
    Schließlich klärt der Facilitator, ob hinter der Spannung der Wunsch nach einer dauerhaften Erwartung steckt. Zum Beispiel merkt eine Person, dass sie von einer anderen Rolle regelmäßig eine bestimmte Zuarbeit benötigt, die bisher nicht formal festgelegt ist. Solche dauerhaften Erwartungen können nur im Governance Meeting (durch Verantwortlichkeiten von Rollen oder evtl. mittels Richtlinien) definiert werden. Erkennt der Facilitator eine entsprechende Governance-Spannung, fragt er: „Möchtest Du einen Reminder, das ins nächste Governance Meeting einzubringen?“. Damit wird das Thema offiziell fürs nächste Governance-Meeting vorgemerkt. Weil bis dahin Zeit vergeht, stellt der Facilitator direkt die Anschlussfrage: „Gibt es bis dahin etwas Operatives, das getan werden muss?“. So bleibt nichts Dringendes liegen, bis die Governance-Änderung greift.

Mit diesen vier Leitfragen navigiert der Facilitator jeden Agenda-Punkt systematisch zum Abschluss. Nicht jeder Punkt benötigt alle Fragen – oft ist nach A) oder B) schon alles Wesentliche erledigt. Entscheidend ist, dass am Ende der Sequenz die Person, die die Spannung eingebracht hat, die Frage „Hast du damit alles, was du brauchst?“ mit Ja beantworten kann. Dann ist der Zweck erfüllt: Das Tactical Meeting hat die Spur wieder freigemacht, und die Runde kann zum nächsten Thema übergehen.

Während der ganzen Verarbeitung bleibt derdie Facilitator allparteilich und konsequent prozessorientiert. Ersie moderiert streng entlang der oben genannten Fragen und verhindert, dass die Gruppe in Diskussionen oder Ratschläge verfällt, die nicht direkt zur Lösung der Spannung beitragen. Diese klare Führung bietet Sicherheit für alle: Niemand muss Angst haben, dass sein Anliegen zerredet wird, und gleichzeitig wissen alle, dass das Meeting pünktlich endet. Die Struktur ist ein Haltgeber – aber kein starres Korsett. Im Gegenteil berichten viele Praktiker:innen, dass sie dank der festen Regeln schneller zu Lösungen kommen und das Tactical als wöchentlichen Boost für die Zusammenarbeit schätzen.

Häufige Missverständnisse in der Praxis

Tactical Meetings werden in der Anwendung manchmal falsch verstanden oder kritisch beäugt. Hier sind einige gängige Missverständnisse – und wie sie sich in der Praxis auflösen:

  • “Im Tactical Meeting wird operativ gearbeitet.” In Wirklichkeit ist das Tactical kein Ort für inhaltliche Detailarbeit. Im Meeting werden keine Projekte umgesetzt und keine Probleme im Plenum ausgewalzt. Stattdessen identifiziert das Tactical nur die nötigen Next Actions, Entscheidungen oder Klärungen – damit nach dem Meeting alle in ihren Rollen zügig weiterarbeiten können. Die operative Arbeit findet dezentral außerhalb statt; das Tactical schafft lediglich den Rahmen, um Blockaden dafür schnell aus dem Weg zu räumen.
  • “Tactical ersetzt die Klärung von Beziehungsproblemen.” Nein – persönliche Konflikte oder zwischenmenschliche Spannungen gehören nicht ins Tactical Meeting. Die Meeting-Struktur bietet bewusst keinen Raum für Emotionen oder Teambuilding, denn es geht um rollenbezogene Sachthemen. Wenn es hakt im zwischenmenschlichen Bereich, sollte das separat und ggf. mit anderen Formaten angegangen werden (z.B. Mediation, klärendes Gespräch unter vier Augen). Tactical Meetings sind für die Bedürfnisse der Organisation gedacht und fokussieren deshalb strikt auf die Sachebene und den aktuellen Arbeitsbedarf. D.h. wiederum NICHT, dass die Bedürfnisse von Menschen nicht auch wichtig und wertvoll sind. Es bedeutet einfach, dass für diese Bedürfnisse ein eigens dafür geschaffener Rahmen nötig (und sinnvoll ist).
  • “Im Tactical bekommt man offizielle Legitimation.” Manche glauben, eine Entscheidung oder Idee müsse erst im Tactical “abgesegnet” werden. Doch Holacracy tickt anders: Autorität entsteht durch Rollen (und die Verfassung), nicht durch Meetings. Jeder Rollen-Lead darf eigenständig handeln, solange es dem Sinn & Zweck dient oder die Verantwortlichkeiten der Rolle betrifft – dafür braucht es kein Tactical-Votum. Das Tactical dient der Transparenz und Abstimmung, aber es erteilt keine Erlaubnisse. Im Gegenteil – du solltest nicht auf Meetings warten, um loszulegen!
  • “Man muss auf das Tactical warten, um Spannungen zu lösen.” Falsch – warte nicht auf das Tactical, wenn du eine Spannung sofort klären kannst! Das wöchentliche Meeting ist als Sicherheitsnetz gedacht, aber der bevorzugte Weg ist immer, Spannungen so bald wie möglich direkt zu verarbeiten. Holacracy fördert die ad-hoc Kommunikation: Ein kurzer Zuruf, eine Chat-Nachricht oder spontane Abstimmung kann viele Themen schneller lösen, als wenn man sie „fürs Meeting aufspart“. Das Tactical ist also keine Ausrede, Dinge liegenzulassen, sondern eine Rückfallebene für alles, was bis dahin ungelöst blieb.

Fazit: Strukturierter Prozess – flexible Menschen

Ein Tactical Meeting in Holacracy mag zunächst streng getaktet wirken, doch in dieser Klarheit liegt seine Kraft. Es schafft einen verlässlichen Raum, in dem jedes Teammitglied Gehör findet und Spannungen effizient bearbeitet werden – ohne dass das Meeting ausufert. Durch die festen Schritte und Leitfragen gewinnen alle Beteiligten Sicherheit, sich auf den Prozess verlassen zu können. Gleichzeitig bleibt genug Flexibilität, denn alles, was im Tactical passiert, könnte grundsätzlich auch außerhalb geschehen – der Unterschied ist: Im Tactical passiert es verlässlich und gebündelt.

Die Kernidee dahinter: Der Prozess gibt Halt, aber er engt nicht ein. Tactical Meetings sind kein Selbstzweck und schon gar kein bürokratisches Korsett, sondern ein Beschleuniger – sie sorgen dafür, dass die Selbstorganisation im Alltag reibungslos funktioniert. Mit der Zeit entwickeln Teams ein Gespür sowohl für den formalen Ablauf als auch für die Holacracy-Haltung dahinter: Transparenz, Verantwortungsbewusstsein und lösungsorientiertes Handeln. Ist das einmal verinnerlicht, entfalten Tactical Meetings ihre volle Wirkung – als wöchentliches Ritual, das den operativen Pulsschlag deiner Organisation synchronisiert.


Moderationskarte für Tactical Meetings (kostenlos)

Zweiseitige Karte im PDF-Format. Kompakter Spickzettel für den gesamten Ablauf – Schritte, Leitfragen und Pfade A–D; nutzbar vor, während und nach dem Meeting.


„Was brauchst du?“
Die mächtigste Frage im Tactical Meeting