Unterschiede zwischen Holacracy Facilitator und Coach

Dennis Wittrock

Dieser Artikel beschreibt die unterschiedlichen Fähigkeiten von Holacracy Facilitator und Coach auf ihrer Lernreise.


Abbildung: Holacracy Facilitator --> Coach Lernweg nach Chris Cowan, HolacracyOne

Hinweis: in der Übersetzung der neuen Verfassung v5.0 wird „Facilitator“ mit „Prozessmoderator*in“ übersetzt. Aus Gründen der Einfachheit, v4.1 Kompatibilität und Kürze bleibe ich in diesem Artikel bei dem englischen Original-Begriff „Facilitator“.


Der Ausgangspunkt für unsere Erkundung ist eine Grafik, die der Holacracy Master Coach Chris Cowan veröffentlicht hat. Sie skizziert entscheidende Unterschiede der Fähigkeiten von Holacracy Facilitator und Coach auf ihrer jeweiligen Lernreise im Laufe der Zeit.

Beide beginnen, indem sie die grundlegende Mechanik der Meetingprozesse lernen, d.h. die korrekte Abfolge der Schritte, begleitet von einer angemessenen Rahmung, bzw. Erklärung des Inhalts der Schritte für die Teilnehmenden („Framing“). Am Anfang sind hier noch wenig Unterschiede erkennbar. Erst nach einer gewissen Zeit entwickelt sich auf dem Coach-Lernweg hier ein erkennbar genaueres und angemesseneres Erklären der Schritte gegenüber einem gewöhnlichen Facilitator.

Das „Höchste der Gefühle“ für das Facilitator Lernniveau ist, dass den Anforderungen des Prozesses gemäß der Verfassung entsprochen wird – nicht mehr aber vor allem nicht weniger. Das wird im Diagramm durch die horizontale Linie ausgedrückt und durch den Begriff „Mechanik“ gekennzeichnet. Ein Facilitator meistert die Mechanik des Prozesses.

Dieses Ziel wird mit fortwährender Praxis im Grunde relativ bald erreicht. Allerdings wird es oft ohne Not wieder geopfert, was im Diagramm als das Abfallen unter die gestrichelte Linie ausgedrückt wird. Innerlich wird das Abweichen von der Prozessnorm oft mit folgendem Argument gerechtfertigt: „Ich verstehe die Mechanik, aber die Rigidität schadet der Erfahrung und dem Lernen“. Man genehmigt sich also selber großzügig ein Abweichen von den Regeln, was den Effekt hat, dass der Prozess sich kurzfristig subjektiv besser für den Facilitator anfühlt. Das führt dann aber leicht zu einer Art Dammbruch, bei der mehr und mehr Prozessregeln dem persönlichen Komfort geopfert werden.

Warum die Regeln verwässert werden

Gleichzeitig werden in der Anfangsphase die Schritte Einwandrunde und Integration des Governance Meetings häufig als unangenehm und sozial unerwünscht empfunden, weil die Funktion der Schritte und ihr essentieller Wert vom Team noch nicht in echter Erfahrung verkörpert erlebt worden ist. Hier einige Symptome dieser Problematik:

  • Einwände werden eher als konfrontativ erlebt – statt als wertvolle Information, die die vorschlagende Person entlastet und hilft, den Vorschlag sicher zu machen. Einwände werden dann so bewertet, als ob die vorschlagende Person einen Fehler gemacht hat. „Wie peinlich!“
  • Die Testung von Einwänden erscheint als ein komplizierter, intellektueller Wettstreit, bei dem es darauf ankommt, ein Argument zu „gewinnen“ und bei dem der*die „Verlierer*in“ sich schämen muss, sobald sein*ihr „falscher“ Einwand „entlarvt“ wird, weil er*sie die Regeln dieses multidimensionalen, juristisch anmutenden Schachspiels noch nicht kapiert hat. „Wie peinlich!“
  • Der Schritt Integration ist zu Anfang von einer ominösen Aura umgeben. Hier passiert irgendetwas “Magisches”mit dem Vorschlag und den Einwänden, doch der Facilitator hat keine klare Vorstellung, wie das Ganze vonstatten gehen soll. Er weiß nicht, worauf er seine Aufmerksamkeit richten soll und er hat die vage Furcht, dass ein Versagen an diesem Schritt seine mangelnde Kompetenz offenbaren würde. „Wie peinlich!“

Aus all diesen Gründen ist grundsätzlich nachvollziehbar, warum es in diesem Reifestadium oft zu einer Aufweichung der Regeln seitens des Facilitators kommt, denn Einwände sollen (bewusst oder unbewusst) unter allen Umständen vermieden werden. Ohne Einwände kann man auch den Prozessschritt Integration umgehen. Dieses Vermeidungsverhalten hat das Ziel, möglichst vorab Konsens zu erzielen, um jegliche Einwände zu vermeiden oder zu verhindern. Mit der Suche nach Konsens bleibt man jedoch im alten Paradigma verhaftet und behindert den Sprung in Richtung verteilter Befugnis, wie sie in Holacracy gedacht ist. 

Formen und Indizien der Einwandsvermeidung

  • Diskussion während Vorschlag vorstellen, die weit über die angeforderte Hilfe zur Erstellung eines rohen, initialen Vorschlag hinausgeht und den späteren Prozessschritten (Reaktionen, Einwände, Integration) vorgreift.
  • Verständnisfragen“, die eigentlich Reaktionen sind, die nicht abgeschnitten werden.
  • Dialog-Sequenzen während der Reaktionsrunde, die nicht abgeschnitten werden. Eine vorschlagende Person, die das Bedürfnis verspürt, den Inhalt der Reaktionen der anderen mitzuschreiben, um ihren Vorschlag für diese „runder“ zu machen.
  • Dialog-Sequenzen während Gelegenheit zur Klärung, die nicht abgeschnitten werden. Eine vorschlagende Person, die das Gefühl hat, alle Reaktionen in vorauseilendem Gehorsam in ihrem Vorschlag integrieren zu müssen, so dass ja kein Einwand geäußert werden muss. Team-Mitglieder, die bei der Umformulierung des Vorschlags „helfen“ und ein Facilitator, der nicht interveniert, sondern es geschehen lässt, bzw. selber mitmacht.
  • Eine rigide Prüfung von Einwänden, bei der die Energie zwischen Facilitator und einwendender Person nicht wertschätzend und neugierig, sondern eher konfrontativ und kompetitiv ist. Der emotionale Subtext dabei: „Einwände sind nicht willkommen.“

Das Abweichen von den definierten Prozessen hat viele negative Effekte. Wenn sich ein Facilitator über den Prozess stellt, um sein persönliches Wohlbefinden zu erhöhen, dann:

  • wird damit ein Präzedenzfall dafür geschaffen, dass die Regeln offenbar doch nicht so verbindlich sind
  • führt das zu der falschen Annahme, dass manche ausgewählte Rollen das Recht haben, die Regeln außer Kraft zu setzen
  • entsteht der Eindruck, dass bestimmte Menschen die Regeln willkürlich umgehen dürfen und Befugnisse doch noch an mächtigen Personen hängen, die bestimmen dürfen, wann sie gelten sollen und wann nicht, statt durch einen systematischen Prozess definiert zu werden

In Summe erodiert dieses Verhalten das Vertrauen in den Prozess und die Regeln von Holacracy schrittweise – genauso wie korrupte Richter oder Polizisten das Vertrauen in die verfassungsgemäße Rechtsstaatlichkeit und die öffentliche Sicherheit untergraben.

Ein entscheidender Wendepunkt für einen Facilitator

Sobald ein Facilitator durch fortgesetzte Praxis hinreichend Erfahrung und Sicherheit im Umgang mit Einwänden entwickelt hat, wenn er ihren Wert als Sicherheitssignal erkennt und kommuniziert, und wenn er weiß, wie er anhand welcher mentalen Ankerpunkte die Integration navigieren kann, ist ein entscheidender Wendepunkt erreicht. Er fühlt sich weitgehend sicher, er erkennt, dass der Prozess der beste Lehrmeister ist und opfert die Mechanik des Prozesses nicht länger zugunsten eines falsch verstandenen Komforts.

Das macht einen Facilitator natürlich noch nicht zu einem Coach – doch zumindest die von der Verfassung geforderten Prozesse laufen nun stabil und zuverlässig und der Facilitator merkt auch, wie es sich anfühlt, wenn er den Prozess schleifen lässt und warum das keine gute Idee ist. ‚Schlauer zu sein als die Polizei/ Verfassung erlaubt‘ wird als Irrweg erkannt. Man ist aus Schaden klug geworden.

Welche Fähigkeiten muss ein Holacracy Coach zeigen?

Der Lernweg des Coachs ist hauptsächlich dadurch gekennzeichnet, dass die Prozessregeln an keiner Stelle fundamental geopfert werden und dass ein angehender Coach kontinuierlich effektiver darin wird, an den richtigen Stellen Prozess-Entgleisungen und Missverständnissen entgegenzuwirken – während er gleichzeitig Gelegenheiten identifiziert, um anhand konkreter Anlässe wesentliche Einsichten in Bezug auf die Praxis unterstützenden Gewohnheiten, den dahinterliegenden Powershift und die Differenzierung von Rolle und Mensch zu kommunizieren.

Ein exemplarisches Beispiel hierfür ist das Identifizieren von Lücken in der Governance während der Verteilung von Arbeit im Tactical Meeting. Wenn angefragte Projekte zu keiner existierenden Rolle passen und Individuen auf "heroische" Weise einspringen und Arbeit der Organisation außerhalb ihrer Rollen übernehmen, dann weist ein Facilitator mit Coach-Fähigkeiten auf diese Lücke hin und fragt, ob eine wiederkehrende Erwartung im Spiel ist und ob ggf. auch noch eine Spannung für das nächste Governance-Meeting festgehalten werden soll.  

Ein Coach findet das richtige Maß der Involviertheit im Prozess – nicht zu viel, nicht zu wenig – sondern ausgewogen. Seine Erklärungen enthalten weder grobe Fehlinterpretationen, noch sind sie zu wortreich und philosophisch überladen, sondern sie sind kurz, pragmatisch und auf den Punkt.

Während ein Facilitator sich sauber an die Regeln der Verfassung hält, kann ein Holacracy Coach bei Bedarf darüber hinaus auch ihren Sinn und Zweck und ihre Wirkweise erklären, warum sie da sind, sowie was passiert, wenn sie ausgelassen oder ignoriert werden.

Die genauen Kriterien, die während eines Coach-Lizenz Assessments angewendet werden, kann man hier nachlesen: 

Selbst-Assessment für Holacracy Praktizierende


Holacracy ist eine Praxis. Der Haupt-Schlüssel zur Meisterung von Coach-Fertigkeiten besteht entsprechend aus fortgesetzter Hinwendung zur Praxis, kontinuierlichem Lernen, sowie Mentoring und Shadowing durch erfahrene Praktizierende oder externe Coaches.

Die Teilnahme an der speziell dafür konzipierten Holacracy Coach Ausbildung kann natürlich nicht schaden, doch selbst eine solche vertiefte Übungserfahrung droht auch wieder zu verblassen, wenn sie nicht durch eine regelmäßige Praxis in der eigenen Organisation flankiert wird.

 

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Wie wird man Holacracy Coach?
Dennis Wittrock