Unbeabsichtigte Machtkonzentration trotz flacher Hierarchie

Eleonora Weistroffer


Augenhöhe wächst nicht mit

“Ich wünsche mir einfach, dass sich alle Mitarbeitenden so gut einbringen und Verantwortung übernehmen, wie sie es eben können - natürlich gibt es da Unterschiede. Wir suchen nach einer Organisationsform, die uns das ermöglicht”.

Die Gründerin Mitte 40 hat in ihrem nach 15 Jahren bereits auf knapp 50 Personen angewachsenen Dienstleistungs-Unternehmen schon so manches versucht.

“Wir hatten immer schon eine flache Hierarchie und alle Kolleginnen und Kollegen konnten sich einbringen. Ich wünsche mir ja selbst mehr Augenhöhe. Aber es ist fast egal, was ich tue, in den Augen der Mitarbeitenden werde ich immer mehr zur klassischen Chefin.

Woran sie das festmache, frage ich. Sie überlegt und zählt ein paar wiederkehrende Erfahrungen auf:

“Ich höre Beschwerden, dass ich Meinungen einholen und dann doch anders entscheiden würde. Dass nicht jede Meinung gleich viel Gewicht habe. Dass immer mehr Entscheidungen hinter verschlossenen Türen im kleinen Kreis getroffen würden…”

Und…?

“Naja, natürlich stimmt das teilweise. Ich kann ja nicht jede Entscheidung mit 50 Leuten diskutieren. Je mehr wir wurden, desto komplizierte wurde die Kommunikation. Wir haben uns die Gewohnheit erhalten, alle Informationen transparent zu machen. Alle können alles nachlesen, wenn sie wollen. Aber diese Mühe machen sie sich dann oft nicht.”

Das ist nachvollziehbar, die Komplexität eines Unternehmens dieser Größe ist schon hoch genug, dass Mitarbeitende nicht mehr zum Arbeiten kämen, wollten sie alle Entscheidungen mitverfolgen, die getroffen werden.


Projekte als Gefäss für diffuse Entscheidungsbefugnisse


Und noch ein Muster lässt sich beobachten: wie in vielen Unternehmen mit flacher Hierarchie hat sich das Muster eingespielt, größere Entscheidungen als Projekte zu betrachten und einer Gruppe von Projektbeteiligten zu übergeben. Manchmal mit, manchmal ohne definierte Projektleitung. Die Entscheidungsbefugnis bleibt dabei immer etwas diffus. Oft verstehen die Beteiligten die Projekte mehr als Entscheidungs-Vorbereitung und delegieren die eigentliche Entscheidung an die Unternehmensspitze zurück.

Sollen wir ein neues ERP System einführen? Macht es Sinn, ein digitales Geschäftsfeld aufzubauen? Wie könnten wir unser Employer Branding so weiterentwickeln, dass wir internationale junge Talente anziehen? Solche und ähnliche Entscheidungen werden zu Projekten. Die finale Entscheidung liegt jedoch meist weiterhin bei der Unternehmensführung. Auch wenn das nicht ausgesprochen ist. 

 “Ich fühle mich wie die Spinne im Netz. Bei mir laufen alle Fäden zusammen, auch da, wo es mir gar nicht nötig erscheint”.
 

Gruppendynamik erschwert Machtverteilung


Eine spannende Beobachtung: Wenn sie einzelne Kolleginnen oder Kollegen stärker in neuralgische Entscheidungen einbeziehe, entstünde schnell eine unglückliche Dynamik. Schon einige gute Kolleginnen und Kollegen habe sie auf diese Weise verloren. “Die hatten auf einmal das Gefühl, das Vertrauen der anderen verloren zu haben und gegen die absurdesten Widerstände kämpfen zu müssen.

Das Phänomen ist bekannt. Schon in den 70er Jahren hat Henry Mintzberg in seinem Buch "The Nature of Managerial Work" darüber geschrieben, wie Menschen auf derselben Hierarchieebene versuchen sich gegenseitig daran hindern, mehr Macht zu erlangen. Das Abflachen von Hierarchien könnte dieses Muster durchaus verstärken. 

“Ist so etwas überhaupt lösbar?” fragt sie

Zumindest lässt es sich entschärfen, sodass deutlich weniger Frust entsteht.


Drei zentrale Lösungsstrategien, die im Zusammenspiel am wirkungsvollsten sind:


1. Entscheidungen an explizite Rollen koppeln - und diese nach und nach abgeben

“Deine Mitarbeitenden haben gelernt, dir zu vertrauen”, teile ich meine Vermutung. Es wird eine Weile brauchen, bis jemand anders sich in wichtigen Entscheidungen ebenfalls bewährt hat. Wenn du Entscheidungen als einmalige Projekte definierst und einer Gruppe von Menschen gibst, hat niemand die Chance, wirklich in die Verantwortung hineinzuwachsen - innerlich nicht und auch nicht in der Wahrnehmung der anderen.

Wenn Entscheidungen in expliziten Rollen verortet sind und die Rollen-Führenden die volle Verantwortung dafür haben und auch nachhaltig die Erfahrung machen dürfen, dass du nicht plötzlich doch reingrätscht, dann fühlt sich die Macht etwas breiter verteilt an.

2. Das WIE klären - es ist so wichtig wie das WER

Der Eindruck fairer Beteiligung ist nicht davon abhängig, dass alle Meinungen berücksichtigt werden. Menschen können gut akzeptieren, dass etwas anders kommt, als sie sich wünschen - wenn sie nachvollziehen können, warum. Und wenn sie jemanden haben, den sie fragen können.

Wenn eine Rolle eine Entscheidung treffen muss, kann sie sich z.B. mit allen beraten, die eine relevante Perspektive darauf einbringen können. Das Spektrum zwischen hierarchischem Einzelentscheid und Konsens ist groß. Dazwischen liegen mindestens Formen des konsultativen Einzelentscheids und des Konsent-Entscheids. Spielt damit. Gestaltet über Richtlinien explizit, welche Entscheidungsform für besonders knifflige Entscheidungen zu nutzen ist (z.B. Rekruitierung, Gehälter, Strategie, etc.)

3. Gestaltungsspielräume schaffen und erhalten

Der Eindruck von zu starker Machtkonzentration entsteht auch, wenn individuelle Gestaltungsspielräume als zu klein empfunden werden. Wenn Rollen überwiegend für die Ausführung verantwortlich sind, aber immer jemand anders die Strategie und die Priorisierung entscheidet, kann sich das schnell so anfühlen.

Das ist das Paradoxe an eigentlich sehr agilen Ausrichtungssystemen wie OKRs. Sie sorgen für temporäre Stabilität der Prioritäten. Aber selbst wenn Mitarbeitende in ihrer Entstehung beteiligt sind, können sie sich starr und einengend anfühlen, wenn sie im Alltag dynamisches Priorisieren verhindern. Natürlich ist das teilweise Absicht. So lassen sie Kräfte wirklich bündeln und große Aufgaben gemeinsam stemmen. Aber das Verhältnis muss passen. Bleibt die alltägliche Reaktionsfähigkeit zu sehr auf der Strecke, fühlen sich Menschen gegängelt, selbst wenn sie die Ziele und Messgrößen mitentwickelt haben.

Ob ein Unternehmen nun grundlegende Veränderungen am Organisationssystem vornimmt (z.B. mit Holacracy) oder einfach nur beabsichtigt, Verantwortung etwas breiter zu verteilen: diese drei Strategien sind aus meiner Sicht ein guter Hebel.

Welche Erfahrung macht ihr mit unerwünschter Machtzentralisierung und welches sind eure zentralen Lösungsansätze?


Dieser Artikel wurde am 19.05.2023 veröffentlicht.

Die „sicher genug, um es zu probieren“- Falle
Dennis Wittrock