4 zentrale Features eines modernen organisationalen Betriebsystems

Patrick Scheuerer

Im letzten Blog-Beitrag haben wir darüber geschrieben, wie sich die Aufgaben von Organisationen und wie sich die Rahmenbedingungen und Spielregeln im Laufe der letzten 150 Jahre grundlegend verändert haben. Doch welche „Features“ braucht eine Organisation, um in der heutigen Welt erfolgreich und wettbewerbsfähig zu sein? Was sind die zentralen Aspekte für moderne Organisationsstrukturen und moderne Organisationsformen?

Wir möchten nochmals die Metapher des Betriebssystems vom letzten Beitrag aufgreifen: Ein Betriebssystem beschreibt im Kontext von Computern eine Basis-Software, die das Zusammenspiel verschiedener Hardware-Komponenten erst ermöglicht und damit zentrale Prozesse anbietet. Diese können dann von Applikationen verwendet werden, um mit der Hardware ganz bestimmte Aufgaben zu erledigen.

In der Welt der Computer würde es uns nie in den Sinn kommen, ein veraltetes Betriebssystem wie MS-DOS auf modernster Hardware, wie z.B. einem Smartphone oder einem Tablet zu installieren. Das Gerät wäre praktisch nutzlos. Es würden weder hochauflösende Touch-Screens und Gestensteuerungen noch Applikationen auf diesem Smartphone laufen – geschweige denn parallel ausgeführt werden können. Die unzähligen technologischen Innovationen, die in den letzten 25 Jahren entwickelt wurden, wären somit unbrauchbar.

Technologische Innovation – und die damit einhergehende Erweiterung der Einsatzbereiche – verändern ständig die Anforderungen an ein Betriebssystem. Wie handhaben wir Innovationen auf anderen Ebenen, z. B. mit unseren heutigen sozialen Techniken? In Organisationen regelt eine soziale Technik, wie wir zusammenarbeiten. Sie regelt, wie wir Erwartungen aneinander festlegen können. Wie wir uns gegenseitig in die Verantwortung nehmen. Wie wir Arbeit herunterbrechen und verteilen oder wie wir gemeinsam an einem grösseren Sinn arbeiten. Die mit Abstand am weitesten verbreitete soziale Technologie dafür, wie wir in Organisationen zusammenarbeiten, stellt die Management Hierarchie dar.

Im letzten Blog-Beitrag haben wir bereits einige der wichtigsten Veränderungen skizziert, die in den letzten Jahrzehnten die Rahmenbedingungen für Organisationen dramatisch verändert haben. Der stark gestiegene Bildungsgrad der Menschen, die Verlagerung von physischer Arbeit zu Wissensarbeit, die Senkung der Eintrittshürden für neue Marktteilnehmer, um die wichtigsten nochmals zu nennen.

Was muss soziale Technologie für Organisationen im 21. Jahrhundert leisten können? Welche „Features“ braucht ein Betriebssystem für moderne Organisationen, damit es up-to-date und den Anforderungen unserer Zeit gewachsen ist?

Dieser Frage möchten wir uns in den nächsten drei Blog-Posts widmen. Im ersten Teil wollen wir untersuchen, welche Features Unternehmen zu mehr Agilität und Veränderungsfähigkeit verhelfen. Im zweiten Teil geht es um den persönlichen Entwicklungs- und Wachstumsprozess, der nötig ist, um in selbstorganisierten Unternehmen produktiv und wirkungsvoll zu sein. Im dritten Teil widmen wir uns dem Thema, wie evolutionärer Sinn in selbstorganisierten Unternehmen zum zentralen Orientierungspunkt wird.

 

Veränderungsfähigkeit und Reaktionsfreudigkeit

Die Anzahl und die Qualität der Interaktionen, die ein durchschnittlicher Mensch heute täglich bewältigt, hat sich in den letzten Jahrzehnten massiv verändert erhöht. Digitale Kommunikationsmittel ermöglichen uns, rund um die Uhr mit Menschen auf der ganzen Welt in Echtzeit in Kontakt zu treten und uns auszutauschen. Die Menge der Interaktionen hat als Folge davon massiv zugenommen. Wir tauschen uns viel häufiger, dafür aber auch kürzer und knapper aus: hier ein Facebook-Update, da eine WhatsApp Message, hier noch schnell ein Foto auf Instagram posten und da noch schnell eine E-Mail verschicken.

Viele dieser Interaktionen sind auch für unsere Arbeit relevant. Diese unzähligen Interaktionen, die wir jeden Tag bei unserer Arbeit erleben, kann man auch als Spannungen verstehen: eine Spannung stellt in diesem Zusammenhang nichts Negatives dar; sie bezeichnet lediglich den Unterschied zwischen dem gegenwärtigen und einem wünschenswerten, zukünftigen Zustand. Der Auslöser einer Spannung kann also ein Problem in den aktuellen Arbeitsabläufen oder eine unklare Zuständigkeit (Optimierung), und ebenso eine Gelegenheit oder eine Chance für ein neues Produkt (Innovation) oder die Ausweitung der geschäftlichen Tätigkeiten auf einen komplett neuen Bereich sein. Solche Spannungen werden natürlich an den unterschiedlichsten Positionen im Unternehmen festgestellt. Je mehr solcher Spannungen wahrgenommen werden, desto grösser wird der Druck, diese zu bearbeiten. Das Aufstauen der Spannungen löst Blockaden und damit Stress und Frustration aus.

In den meisten Organisationen ist es heute kein einfaches Unterfangen, solche Spannungen schnell und unkompliziert zu bearbeiten. Entweder haben wir oft nicht die Autorität dazu, die notwendigen Entscheidungen zu treffen, da die Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten nicht klar geregelt sind. Oder wir verfügen nicht über die nötigen Ressourcen, um die Spannung zu lösen. In der Praxis werden daher durch die vorgegebenen Strukturen viele dieser Spannungen an den Chef delegiert („Soll der sich mal darum kümmern und eine Entscheidung treffen.“) Oft bleiben die Spannungen jedoch aus verschiedenen Gründen unausgesprochen.Das führt in der Praxis oft dazu, das gute Ideen im Dickicht der Strukturen und der Management-Ebenen versinken. Gleichzeitig nimmt der Druck durch die zunehmende Konzentration von Spannungen extrem zu, je höher man die Management-Hierarchie hinaufklettert.

Um die Bearbeitung solcher Spannungen so schnell und effektiv wie möglich zu machen, müssen die Kosten von Veränderungen drastisch reduziert werden. Es darf keine Überwindung mehr kosten, die Struktur der Organisation zu verändern. Die Anpassung von Aufgaben, Zuständigkeiten und Verantwortungsbereichen muss jederzeit möglich sein und muss von jedem Mitglied der Organisation initiiert werden können. Um die Vielzahl von Veränderungsimpulsen bewältigen zu können, braucht es weitgehend selbst-organisierte Strukturen.

Ein zentrales „Feature“ eines modernen organisationalen Betriebssystems ist also die Fähigkeit, Veränderungsimpulse, die in er täglichen Arbeit entstehen, schnell, lokal, unkompliziert und transparent zu lösen.

Dezentralisierung von Entscheidungsgewalt

Einer der häufigsten Stolpersteine, der Selbstorganisation in Unternehmen behindert, sind unklare oder noch lange Entscheidungswege. Damit Entscheidungen schnell getroffen werden können, müssen wir uns von der Vorstellung verabschieden, dass Entscheidungen besser werden, je weiter oben sie getroffen werden. Die besten Entscheidungen werden lokal getroffen, dort wo am meisten Kontextwissen und lokaler Sachverstand vorhanden ist. Allerdings ist es auch wichtig, dass alle von der Entscheidung betroffenen Rollen die Möglichkeit haben, ihre Sicht und Einwände einzubringen, sollte die Entscheidung negative Auswirkungen auf die eigene Rolle oder weite Bereiche des Unternehmens haben. Dabei sind zwei Aspekte zentral: In einem System, dass sich ständig im Wandel befindet, kann es keine endgültigen Entscheidungen geben. Entscheidungen müssen also unter dem Vorbehalt getroffen werden, dass man zu einem späteren Zeitpunkt immer wieder auf die Entscheidung zurückkommen, resp. eine neue Richtung einschlagen kann. Entscheidungen müssen also nicht mehr richtig sein, sondern sie müssen gut genug und sicher genug sein, dass nicht unmittelbar Schaden und Nachteile entstehen. Damit wird der Grundstein für Experimentieren und Ausprobieren geschaffen.

Vernetzte und spontane Zusammenarbeit

Damit schwache Signale schnell und unkompliziert verarbeitet werden können, muss es möglich sein, alle Personen, die zur Bearbeitung einer solchen Spannung notwendig sind, in einem kollaborativen Rahmen zusammenzubringen. Viele moderne Organisationen nutzen dazu soziale Kollaborations-Software wie z.B. Slack, Yammer, Podio oder ähnliche. Diese Plattformen bieten die Möglichkeit, sich in Echtzeit schnell und flexibel um eine konkrete Aufgabe oder ein Projekt zu organisieren und zusammenzuarbeiten.

Solche Plattformen ermöglichen einerseits eine enorme Flexibilisierung der Arbeit. Informationsaustausch und Zusammenarbeit kann über geografische und zeitliche Grenzen hinweg rund um die Uhr geschehen.

Die Plattformen sollten so offen wie möglich sein, damit Informationen frei fliessen können und Mitarbeiter sich schnell ein umfassendes Bild einer Situation machen können. So hat zum Beispiel Buurtzorg in den Niederlanden in den letzten Jahren die Pflege von alten und pflegebedürftigen Menschen revolutioniert .

Von Beginn an wurde eine interne soziale Kommunikationsplattform genutzt. Das Besondere an Buurtzorg ist, dass die Organisation mit inzwischen mehr als 7000 Mitarbeitenden komplett selbstorganisiert funktioniert. Der Gründer Jos de Blok hat von Beginn verstanden, dass Selbstorganisation nur funktionieren kann, wenn die Möglichkeit besteht, dass alle Mitarbeiter sich jederzeit schnell, unkompliziert und transparent austauschen können. Er selber kommuniziert regelmässig über die Plattform. So schreibt er z.B. manchmal Abends vor dem Schlafengehen noch einen Beitrag zu einer Idee oder einem Vorschlag. Am Morgen hat er jeweils dutzende oder sogar hunderte von Antworten und weiss sofort, ob seine Idee gut war oder nicht. Auch die guten Idee werden dann allerdings nicht top-down verordnet. Man vertraut darauf, dass sich gute Ideen von selbst verbreiten. Dann alle Mitarbeitenden erfahren über die Plattform ja von der Idee und können dann für ihren Bereich entscheiden, ob die Einführung der Idee Sinn ergibt oder eben nicht.

Transparenz und Offenheit

In einer Welt im Dauerwandel müssen Entscheidungen schnell, unkompliziert und lokal getroffen werden können. Um dies zu gewährleisten, müssen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter also in die Lage versetzt werden, sich ein möglichst umfassendes Verständnis des Unternehmens und dessen aktueller Strategie, der Prozesse und der finanziellen Situation zu bilden. Nur so sind sie in der Lage, eine informierte Entscheidung treffen zu können.

Kreativität und Innovation leben davon, dass Informationen offen sind und frei fliessen können. Offenheit heisst, dass Informationen frei über willkürlich definierte Grenzen von Bereichen, Abteilungen und Teams hinweg fliessen können. Denn oft sind es gerade die Informationen von aussenstehenden und nicht direkt an einem Prozess beteiligten Personen, die zu neuen wertvollen Einsichten und Durchbrüchen führen. Bei einem grossen Teil von bahnbrechenden Innovationen war Zufall ein zentrales Element. Um diese glücklichen Zufälle zu fördern und -wenn sie passieren- ihnen einen möglichst fruchtbaren Boden zu bereiten, braucht es Offenheit und Transparenz, ohne dabei eine Überflutung durch irrelevante Informationen, noch eine Notwendigkeit von Konsens zu verursachen.

Ein Beispiel dafür, wie man auf flexible Weise mit einem so heiklen Thema wie Ausgabengenehmigungen umgehen kann, zeigt eine Policy von HolacracyOne, dem Unternehmen hinter der Organisationsform Holacracy. HolacracyOne hat die Policy “Spending Authorization”, die für alle Mitarbeiter gilt und für alle einsehbar ist.

Diese Policy beschreibt, dass für sämtliche Ausgaben über 100$ in einer vom Unternehmen genutzten Chat-Software (Slack) eine Absichtserklärung gepostet werden muss und zwar mit dem genauen Betrag und dem Zweck des Kaufs. Die Policy ist dabei so ausgelegt, dass es nicht um Freigabe durch eine zentrale Instanz geht, sondern primär darum, Sichtbarkeit und Transparenz zu schaffen. Alle von der Ausgabe betroffenen Mitarbeiter können Fragen zu und Reaktionen auf eine Ankündigung posten. Klärungsfragen müssen beantwortet und Reaktionen müssen gelesen werden. Dies ist ein schönes Beispiel dafür, wie der  in vielen selbstorganisierten Unternehmen praktizierte Beratungsprozess (advice process) mit moderner Technik umgesetzt werden kann.

Im Beratungsprozess kann jeder Mitarbeiter die Entscheidung treffen, muss sich aber Rat von den beteiligten Mitarbeitern und Experten für dieses Thema einholen. Wichtig dabei ist, dass der Mitarbeitende, der eine Entscheidung treffen will, nur Rat einholen, aber nicht zwangsläufig befolgen muss. Denn die Person, die den Beratungsprozess initiiert hat, verfügt zu diesem Zeitpunkt über die umfassendsten Informationen zu dieser Entscheidung und man vertraut darauf, dass die Person auf Basis dieser Informationen die zu diesem Zeitpunkt bestmögliche Entscheidung treffen wird.

Sehen Sie noch weitere “Features”, die eine moderne Organisation braucht, um Veränderungsfähigkeit und Reaktionsfreudigkeit zu ermöglichen? Dann teilen Sie uns Ihre Ideen und Gedanken gerne als Kommentar mit.

Behemoth wankt
Patrick Scheuerer